In Europa zeichnet sich ein besorgniserregender Trend ab: Laut dem aktuellen Bericht „Health at a Glance: Europe 2024“ sind mittlerweile 35 % der Ärztinnen und Ärzte in der Europäischen Union mindestens 55 Jahre alt. In vielen Ländern liegt dieser Anteil sogar noch höher – in der Hälfte der EU-Staaten sind mehr als 40 % der Ärzte über 55 Jahre alt. Besonders dramatisch ist die Situation in Italien und Bulgarien, wo über die Hälfte der Ärzte diese Altersgrenze überschreitet. Gleichzeitig steigt der Anteil älterer Mediziner in vielen europäischen Ländern, was das Gesundheitssystem zunehmend belastet.
Fachkräftemangel: Ursachen und Folgen
Der hohe Anteil an älteren Ärzten ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: Die sinkende Zahl an jüngeren Medizinerinnen und Medizinern sowie die immer später erfolgende Pensionierung der bestehenden Belegschaft. In vielen Ländern gibt es nicht genug Ausbildungsplätze für angehende Ärzte, was die Nachwuchsgeneration stark schrumpfen lässt. Dr. Alessandra Spedicato von der Europäischen Föderation angestellter Ärzte verweist darauf, dass unattraktive Arbeitsbedingungen und die Abwanderung junger Ärzte in andere Länder ebenfalls zu dieser Entwicklung beitragen.
In Ländern wie Italien und Bulgarien, wo 54 % der Ärzte älter als 55 Jahre sind, ist die Lage besonders ernst. Hier herrscht ein starkes Ungleichgewicht, da auf eine zunehmende Zahl älterer Ärzte kaum eine entsprechende Anzahl junger Mediziner folgt. Auch in Deutschland und Frankreich, mit Anteilen von 44 % und 43 %, ist die Situation alles andere als ideal. Einzig Rumänien, mit einem Anteil von 21 %, und Großbritannien (14 %) zeigen sich hier als Ausnahmen.
Pensionierung und Abwanderung verstärken den Druck
Ein weiterer Faktor, der zur Alterung der Ärzteschaft beiträgt, ist die späte Pensionierung. In vielen europäischen Ländern können Ärzte heute später in den Ruhestand gehen, was die Altersstruktur in den Gesundheitssystemen weiter verschärft. Gaetan Lafortune, Experte der OECD, erklärt, dass in einigen Staaten ein hohes Renteneintrittsalter gefördert wird, während andere Länder striktere Regelungen haben. In Kombination mit niedrigen Gehältern, hohem bürokratischen Aufwand und der schwierigen Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wird der Arztberuf für junge Menschen zunehmend unattraktiv.
Mangel an jungen Ärzten: Bildungsdefizite und Abwanderung
Der Mangel an jungen Medizinerinnen und Medizinern ist in vielen EU-Staaten ein wachsendes Problem. Malta (46 %) und Rumänien (34 %) weisen mit die höchsten Anteile an Ärzten unter 35 Jahren auf, während in Ländern wie Italien nur 11 % der Ärzte diese Altersgruppe vertreten. Spedicato betont, dass Kürzungen im Bildungsbereich in der Vergangenheit zu den Personalengpässen von heute geführt haben. Der Mangel an Nachwuchsmedizinerinnen und -medizinern ist ein wesentlicher Treiber der Alterung und stellt eine akute Bedrohung für die Gesundheitsversorgung dar.
Pflegekräfte sind jünger, aber auch hier gibt es Engpässe
Während der Altersschnitt bei Ärzten zunehmend problematisch wird, fällt dieser bei Pflegekräften deutlich niedriger aus. EU-weit sind im Durchschnitt 24 % der Pflegekräfte über 55 Jahre alt, wobei Rumänien mit nur 10 % eine Ausnahme bildet. Dennoch sind auch in der Pflege zunehmend Engpässe zu beobachten, was die Belastung des Gesundheitssystems weiter erhöht. Eine alternde Gesellschaft erfordert sowohl im medizinischen als auch im pflegerischen Bereich eine angemessene Anzahl an Fachkräften, die die wachsende Nachfrage bewältigen können.
Doppelte Alterung stellt Gesundheitsversorgung vor Herausforderungen
Ein zusätzliches Problem ergibt sich durch die zunehmende Alterung der Bevölkerung. Im Jahr 2022 kamen auf jede Fachkraft im Gesundheits- und Sozialwesen 3,49 Menschen über 65 Jahre. Bis 2050 wird dieser Wert voraussichtlich auf 3,94 ansteigen. Dies bedeutet, dass das Gesundheitssystem noch stärker gefordert wird, die Bedürfnisse einer älter werdenden Gesellschaft zu decken. James Buchan von der Health Foundation fordert daher eine langfristige, datengestützte Personalplanung, um den drohenden Versorgungslücken vorzubeugen.
Handlung ist gefragt
Die Herausforderungen, die sich aus der alternden Ärzteschaft und der zunehmenden Belastung des Gesundheitssystems ergeben, sind enorm. Experten fordern dringende Maßnahmen, um die Ausbildungskapazitäten zu erhöhen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und Anreize zu schaffen, um den Beruf des Arztes für junge Menschen wieder attraktiver zu machen. Eine langfristige Personalplanung ist unerlässlich, um die medizinische Versorgung in Europa auch in Zukunft sicherzustellen.
Besonders wichtig ist es, politische Maßnahmen zu ergreifen, die den Ärztemangel und die alternde Ärzteschaft adressieren, um die Gesundheitsversorgung für die wachsende Zahl älterer Menschen zu gewährleisten. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels und der steigenden Nachfrage wird die Gesundheitsversorgung nur dann aufrechterhalten können, wenn frühzeitig reagiert wird.

